Ⅱ : Neko │ 1 · Frühstücksei und Feuer frei!
»Möchtest du auch ein Ei, Neko?«
»Au ja!«
»Und du, Schatz?«
»Wenn es nicht wieder so hart ist, gerne«, brummelte es hinter der Morgenzeitung.
»Verteilt ihr bitte noch die Teller und Messer? Kaffee ist gleich durch.«
Eigentlich ein ganz normaler Montagmorgen – nur mit einem Teller mehr.
6:13 Uhr.
Der Wecker quäkte schon fast eine viertel Stunde vor sich hin.
Kiro drehte sich murrend nochmal um.
Er hämmerte dabei die Noch-fünf-Minuten-Mama-Taste nach unten.
6:14 Uhr.
Als das nervige Tuten des Weckers verstummt war, wurde er von klappernden Tellern und dem verlockenden Röcheln der Kaffeemaschine wachgehalten. Aus der Küche hörte er Stimmen.
»Neko bekommt ein Ei. Ich will auch ein Ei. Und wer ist überhaupt diese ›Neko‹?«, dachte er sich, mit einem Bein noch im Schlummerland.
»Ich hasse Montage!« und »Haben wir Besuch?«, waren die nächsten beiden schwerfälligen Gedanken. Er quälte sich hoch, um Hirnaktivität Nummer Sechs an diesem Morgen, »Ich muss auf's Klo«, nachzukommen. Er schlurfte an der offenen Küchentür vorbei ins Bad. Beifällig bedachte er dabei alle Anwesenden mit einem verschlafenen »Morgen«. Die drei verschiedenen »Guten Morgen« zurück, wurden von ihm nur mit dem Schließen der Badtür bedacht.
»Nimm dir doch schon mal ein Brötchen, Neko.« Die Frau stellte das dampfende Körbchen in die Mitte des Tisches.
»Danke, Frau Janko.«
»Bleib ruhig bei Helena«, zwinkerte Kiros Mama dem unbekannten Mädchen zu.
Herr Janko, der sich auch ein frisches Brötchen nahm, senkte die Zeitung etwas, blieb aber mit den Augen bei dem spannenden Artikel. »Bei mir reicht Tadashi.«
»Wie alt bist du eigentlich, wenn ich fragen darf?« Frau Janko stand währenddessen auf, um die Kaffeekanne zu holen.
Ein »Wasch tschur Hölle ...« aus dem Türrahmen unterbrach jedoch das Gespräch. Kiro, der im Badezimmer den Stimmen gelauscht hatte, stand jetzt ungläubig, noch mit der Zahnbürste und Schaum im Mund da und traute seinen Augen nicht. Er hatte sich nicht verhört. Wie das Normalste auf der Welt saß das Flammenkind, da auf der Eckbank, auf seinem Platz und plauschte gemütlich mit seinen Eltern.
Wie – tschur Hölle – sollte er ihnen das erklären?
Das war ihm sichtlich zu viel. Er nahm seiner Mutter die Kanne aus der Hand, tauschte seine Zahnbürste gegen eine große Tasse von der Spüle und folgte lieber erstmal Bedürfnis Numero Sieben an diesem Tag: »Ich brauch' jetzt unbedingt einen Kaffee!«
Er setzte sich wortlos mit der Tasse in der Hand auf den ungemütlichen Holzhocker neben die gemeine Platzdiebin. Während er am heißen Kaffee schlürfte, warf er der Kleinen, die bestimmt gerade ihr drittes Nutella-Brötchen verknusperte, einen ärgerlichen Blick zu. – »Wie kannst du es wagen?« Ihr freches Lächeln, das ihn an die Grinsekatze aus Alice im Wunderland erinnerte und auch die Krümel, die ihr dabei aus den schokoladigen Mundwinkeln fielen – »ätschi-bätsch!« –, brachten ihn fast zur Weißglut.
»Junge, sowas muss du uns doch auch mal rechtzeitig sagen«, unterbrach Mama Helena die Blicke. »Natürlich ist so ein Austauschprogramm was Schönes. Aber wir sind doch gar nicht auf sowas vorbereitet. Du weißt, dass Papa und ich ab morgen zwei Wochen in Griechenland sind?«
Das hatte Kiro tatsächlich vergessen. Aber unter diesen Umständen war es vielleicht gar nicht mal so schlecht, dass er zwei Wochen sturmfrei hatte.
»Ja, das weiß ich doch!«
Sein Vater meldete sich zu Wort: »Und wie kommt es, dass du sowas Wichtiges wie einen Schüleraustausch vergisst? Für solche Sachen haben wir den Kalender da! Stift nehmen, eintragen! Wir können keine Gedanken lesen!« Sein strenger Blick zu ihm, schwenkte in einen entschuldigenden zu Neko um. »Nichts für ungut. Du kannst ja nichts für seine Dusseligkeit.«
»Ja, Papa, hab ich halt vergessen! Kann ich jetzt auch nicht mehr ändern!«
»Ist jetzt auch nur halb so schlimm. Tadashi, guck mal auf die Uhr.
Wir müssen jetzt auch langsam los«, bereinigte seine Mutter vorerst die Situation. »Da reden wir heute Abend noch mal drüber, wenn wir wieder da sind, Kiro.«
»Von mir aus«, gab er nur beiläufig zurück. Er war viel mehr darauf konzentriert, dem kleinen Biest in der Ecke nicht augenblicklich den Hals umzudrehen. »Wann seid ihr wieder da?«
»Oh, das kann spät werden. Esst ohne uns Abendbrot«, antwortete ihm seine Mutter. »Und die Sache mit dem verlorenen Gepäck, da rufst du nachher für sie an. Nicht vergessen! Bis sich das klärt, fahrt ihr nachher besser in die Stadt und du kaufst ihr erstmal was Ordentliches zum Anziehen. Schule kannst du heute ausnahmsweise ausfallen lassen. So, kannst du da mit ihr ja nicht auftauchen. Geld legt Papa dir gleich hin.«
Mama guckte, auffordernd und beschwichtigend, Papa an.
Papa guckte, genervt und mahnend, Kiro an.
Kiro sah, zähneknirschend eine Explosion unterdrückend, Neko an.
Neko sah, mit Glitzer-Äuglein, Helena an. »SHOPPEEEN!!!«
Tadashi und Kiro teilten sich einen Gedanken:
»Weiber ...«
* * *
Fünf Minuten später. Mit typisch elterlichen Blicken – »seid ja anständig!« – ließen Helena und Tadashi Janko die Haustür hinter sich ins Schloss fallen.
Kiro goss sich die Kaffeetasse nochmal randvoll.
»Gehen wir jetz wirklich ...«, wollte der Quälgeist gerade starten, da würgte sie seine flache Hand vor ihrer Nase auch schon ab – mit der anderen leerte er seine Tasse in einem Zug. »... shoppen?«, beendete sie ihre Frage dennoch kleinlaut.
»Neeein?!«, war seine sarkastische Antwort.
»Gehen wir zu deiner Schule?«
»Oooh, nein! Ganz bestimmt nicht!«
»Ich krieg jetz Schimpfe, oder?« Ihr theatralischer Hundeblick prallte an Kiro eisern ab.
– Drei ... zwei ... eins ... Feuer frei! –
»Hast du eigentlich 'nen KNALL? Vielen Dank! Nicht, dass mich meine Eltern wahrscheinlich eh schon für bekloppt halten, neeein! Jetzt halten sie mich bestimmt auch noch für dement! Schüleraustausch? Was für Gepäck? Und wer, verdammt nochmal, ist Neko? Hast du mich etwa angelogen? – Shoppen gehen? SHOPPEN GEHEN? Kannst du mir mal sagen, was hier läuft, Serva?«
»Nich Serva!«, warf die Kleine, den Tränen nahe, ein.
»Serva. Neko. MIR doch egal! Ich will wissen, was du von mir willst!«
Das kleine Flammenkind sprang jetzt so abrupt auf, dass Kiro die Worte im Halse stecken blieben. An der Tür hielt sie kurz inne und drehte sich zu ihm um. »Was ICH von DIR will ...?« Jetzt sprudelten die Tränen nur so aus ihr heraus. Ihre Stimme schaukelte auf den Wellen ihres Tränenmeers auf und ab. »DU hast doch gesagt, du willst mir helfen! DU hast doch gesagt, ich darf bleiben! Erst willst du mich befreien und dann nennst du mich weiter SKLAVIN!?«
Während Kiro noch das Küchenparkett betrachtete, auf dem ihre herabtropfenden Tränen kleine, schwarze, rauchende Brandflecken hinterließen, war sie schon im Flur verschwunden.
»Du bist genauso schlimm wie ER!«, war noch vom anderen Ende der Wohnung zu vernehmen.
Mit einem RUMMS, der das benutzte Besteck auf den Tellern zum Klirren brachte, knallte eine Tür zu.
– Stille –
Schon nach wenigen Augenblicken fühlte Kiro sich mies. »Wie schaffen es die Mädels immer, dass ich so schnell ein schlechtes Gewissen bekomme?! – Auch wenn ich im Recht bin!« Um sich runterzufahren, machte er jetzt den Abwasch. Aus den Augenwinkeln sah er immer wieder auf die kleinen Brandfleckchen.
Als er mit dem Geschirr fertig war, überwand er sich und wollte nach ihr sehen. Er folgte der Spur aus schwarzen Punkten auf dem Laminat bis vor seine Zimmertür. Seine Hand blieb kurz auf der Klinke ruhen. »Muss ich jetzt wirklich an meine eigene Tür klopfen?«
Pock-pock-pock.
Vorsichtig betrat er seine Gemächer. Sofort bemerkte er den leichten Brandgeruch. Neko hatte sich, wie er schon erwartete, wieder unter die Bettdecke verkrochen. Er setzte sich, wie schon am Abend zuvor, auf die Bettkante. »Hey, du Schmollmops ...«
»Geh weg!«
»Ich will mich bei dir entschuldigen. Hör mal. Wir haben beide grade Mist gebaut, okay?« Sofort bereute er den Satz und schlug sich innerlich gegen den Schädel. Das war wohl der dümmste Gesprächsanfang, den man einer Frau in so einer Situation anbieten konnte. Auch wenn es richtig war, hatte er damit noch nie Erfolg gehabt.
Aber das Häufchen Elend unter der Decke schluchzte nur: »Schon gut. Bin ich gewohnt.« – Übersetzung in Kiros Kopf: »Gar nichts ist gut. Du bist Scheiße!«
Kiro entgegnete ihr: »Nein, gar nichts ist gut. Bitte schau mich mal an.« Er zog ihr vorsichtig die Decke vom Kopf. Sofort quoll eine kleine, dichte Rauchwolke hervor.
»Tschuldige. Hab dein Kissen angekokelt.« Irgendwie war kein Ansatz von Reue in ihrer Stimme zu hören. – Kiros Kopf-Übersetzer: »Zur Strafe hab ich dein Kissen abgefackelt. Hast du verdient!«
»Ist nicht so schlimm.« Er versuchte möglichst gelassen zu klingen. »Solange du nicht das ganze Haus niederbrennst, wenn wir nachher keine hübschen Klamotten für dich finden ...«
Neko drehte sich zu ihm um. Er hatte ihr damit wieder ein schwaches Lächeln ins Gesicht gezaubert. Unter den großen, feuerfarbenen Augen, die ihn jetzt hoffnungsvoll ansahen, hatten ihre Tränen rußig schwarze Spuren hinterlassen. Wie im Regen verlaufener Mascara.
Er legte ihr behutsam beide Hände auf die Wangen und wischte ihr
mit den Daumen die Traurigkeit davon.
»Kleine Heulsuse!«
»Grobian!«
Sie konnten sich beide ein Grinsen nicht verkneifen.
»Wollen wir das alles unter Startschwierigkeiten verbuchen und lieber nochmal neu anfangen?«
Sie nickte ihm zu, schniefte noch ein letztes Mal und rieb sich die Äuglein. »Oki Doki.«
»Wenn uns hier jemand sehen könnte, hätte er bestimmt auch tausend Fragen. Genau wie du und ich. Also jetzt Klartext. Ja?«
»Jap.«
»Also ...«
»Du bist ein Esel!«, unterbrach ihn Neko schon nach dem ersten Wort.
»Was?«
»Nur ein Esel fängt seine Rede mit ›also‹ an. Das kannst du doch besser.«
Kiro wollte sich nicht wegen sowas streiten und setzte nochmal an. »Das Einfachste zuerst:« – wie er sich da schon irrte – »Serva oder Neko? Wie heißt du denn jetzt?«
»Jetze?«
»Wann denn sonst?« Er fand die Frage albern.
»Neko. Jetzt bin ich Neko.« Sie schien sich dabei über ihren eigenen Namen zu freuen.
»Was heißt ›Jetzt‹?« Nun war er derjenige, der diese gar nicht so alberne Frage stellte.
»Ich versuch's dir möglichst einfach zu erklären. Ja?«
Kiro nickte eifrig.
»Wie ihr Menschen, bekommen auch wir, also ich und alle anderen, die so sind wie ich, bei unserer ... naja ... sagen wir Geburt ... einen Namen. Aber im Gegensatz zu euch werden wir halt nich nur einmal geboren. Und dann bekommen wir auch jedes Mal einen anderen Namen. Jedes Mal eigentlich auch nich. Nur, wenn sich auch der Auftrag ändert. Mein erster Name, an den ich mich erinnere, war Philia. Aber das is schon laaange her. Davor weiß ich nix mehr. Also ich war erst Philia. Dann ... «
Sie dachte so angestrengt nach, dass Kiro sich einbildete, kleine Rauchwölkchen über ihrem Kopf aufsteigen zu sehen. Wenn er sich die Kissenleiche so betrachtete, war das auch gar nicht so abwegig.
» Dann ... Ach, sagen wir, ganz viel andere. Is jetz nich wichtig. Danach war ich ganz schön lange Serva.« Als sie den gehassten Namen aussprach, wurde ihre Stimme abrupt leiser und auch ein wenig weinerlich. »Sooo ... 'n paar hundert Menschenleben halt.«
Kiro, der in ihrer Miene schon den nächsten Tränenschauer erahnte, wollte ihr schnell darüberhinweghelfen. »Der Name bedeutet Sklavin, wenn ich das jetzt richtig raffe. Stimmts? Tut mir leid, dass ich vorhin gesagt habe, dass mir das egal ist. Aber jetzt bist du ja Neko! Oder? Gefällt mir auch viel besser! Indianerehrenwort!« Er hoffte, dass seine gespielte Fröhlichkeit sie wieder zum Lächeln brachte und hielt ihr schwörend zwei Finger hoch. »Neko?«
»Schwamm drüber.« Mit einem Seufzer sah sie wieder zu ihm hoch und erzählte weiter. »Wenn man's genau nimmt, bin ich eigentlich noch gar nich richtig Neko. Dafür muss ich erstmal wieder sterben ... Aber ich will schon lange, ganz unbedingt, wieder Neko sein!«
»Also warst du auch schon mal Neko? Warum willst du denn wieder diese Neko sein?«
»Weiß ich nich mehr so genau. Ich kann mich nur erinnern, dass
Neko-Sein mir ganz viel Spaß gemacht hat. Serva hatte nie Spaß ...«
»Kennst du diese kleinen asiatischen Figuren? Diese winkenden kleinen Katzen? Die heißen auch Neko. Von einigen Legenden her, sind sie heute sowas wie Glücksbringer. Vielleicht warst du ja diese Neko. Oder eine Nekogami. Das sind quasi vergöttlichte Katzen. Ich fänd' beides süß.« Vielleicht konnte er sie ja mit diesen Anekdoten aufheitern.
Hätte er allerdings noch etwas weiter in seinem Wissen gekramt, wäre er auch auf das lateinische Wort Neco oder den Begriff Bakeneko gestoßen. Dann hätte er sich das „süß" wohl nochmal überlegt.
»Ich sag doch, dass ich das nich mehr weiß! Aber toll wär's schon. Egal jetz. Jedenfalls, als ich gestern gemerkt hab, dass du einen Kern besitzt und du mir gesagt hast, dass du mir hilfst, war ich so froh. Ich war so froh, dass ich bleiben darf. Und da hab ich mir einfach gedacht, ich könnte schon mal die anderen Menschen hier kennenlernen. Deine Eltern. Ich wollte das so unbedingt. Ich war voll aufgeregt! – Tut mir leid, wenn ich Mist gebaut hab. Und auch die kleine Notlüge.« Schon wieder ließ die Kleine ihren Kopf hängen. Diesmal in Kombination mit einem Schmollmund.
Kiro verdrehte die Augen. Ein Glück, dass sie das nicht mitbekam. Ihm war völlig klar, dass die Kleine da, ihn mit solchen Gesten ziemlich einfach manipulieren konnte.
Er hatte einen Schrank voll Schwächen. Dazu gehörte auch, dass er es nicht eine Sekunde lang aushielt, wenn er ein hübsches Mädchen weinen sah.
Die Einen meinten, das wäre so eine evolutionäre Reflexkiste, die Anderen, dass er unglaublich sensibel sei und ein sehr emphatischer Mensch. Damit hatte er sich nie wirklich auseinandergesetzt. Wozu auch. Für ihn fühlte es sich dann einfach so an, als würde sein Herz mit einem Stacheldraht-umwickelten Baseballschläger massakriert. Dann handelte er einfach.
Er hasste Menschen, die ein schönes Bauchgefühl immer mit aller Gewalt entschlüsseln wollten; es zerfetzen, analysieren und definieren mussten; tausendseitige Doktorarbeiten darüber verfassten und es dann unter zig geschwollenen Fachtermini begruben. Und im Endeffekt doch keinen Plan hatten, was sie da vor sich sahen.
Nun ja. Solche geliebten Bauchgefühle hatte Kiro schon lange nicht mehr gehabt. Seit ihm allerdings dieses kleine Monster erschienen ist, waren sie wieder da. Und zwar pausenlos. Er fand sie unglaublich verwirrend, aber auch unheimlich schön. Sowohl diese Gefühle,
als auch Neko.
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Philia
[Aus der griechischen Antike – Eine Art der Liebe, aus freundschaftlicher Zuneigung; Basierend auf gegenseitigem Interesse, Vergnügen oder Anerkennung]
Neco
[Latein – Ich töte, ich bringe um, ich vernichte, ich ermorde]
Bakeneko
[Aus dem japanischen Volksglauben – Bösartige Katzendämonen; Unheilsbringer. Entstehen aus uralten Hauskatzen oder Katzen, die Blut ihres ermordeten Besitzers trinken. Fressen Menschenfleisch; Beherrschen Nekromantie (Totenbeschwörung); Ahmen Verstorbene nach.]
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